Das Bochumer Institut für Deutschlandforschung/RUB stellte Anfang Februar im Rahmen eines zweitägigen überregionalen und interdisziplinären Fachgesprächs mit dem Titel „Jenseits der Jahrestage?“ die naheliegende Frage, warum sich die historische Erinnerungskultur überwiegend an der Wiederkehr von „runden“ oder festgelegten speziellen Tagen und Jahren entzündet. Ist dies eine überkommene Form der Erinnerungskultur, die vor allem in nicht- demokratischen Gesellschaften gepflegt wird, oder brauchen wir auch in einer offenen zunehmend pluralistischen Welt diese festen kalendarisch und epochal verankerten Erinnerungsrituale?
Die Frage führte zu einer lebhaften Diskussion mit besonderer Reflexion auf das vergangene Lutherjahr 2017 und auf die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur. Dass Erinnerungskultur nicht nur einen Zeit- sondern auch einen Raumbezug braucht, kam insbesondere in der Diskussion um das Jahr 2018, als Jahr des (endgültigen) Abschieds vom Deutschen Steinkohlenbergbau zur Sprache. Grundlage für die Debatte war das umfangreiche Jahresprogramm „Glückauf Zukunft“http://www.glueckauf-zukunft.de/kalender, in dem fast ausschließlich im Ruhrgebiet an die Bedeutung der Steinkohle und der Kumpel erinnert wird.
Das Impulsreferat dazu trug den Titel „ Das Extra-Jahr 2018. 365 Tage Erinnerung mit Zukunft“ (Dr. Ulrike Laufer, Kommentar Prof. Dr. Petzina). Continue reading
Category Archives: Technikgeschichte
Der Messerschmitt Kabinenroller und seine Vorgeschichte
Ein Beitrag zur Tagung “Objektgeschichte(n)” der GTG in Bochum 2016
Kalter Krieg und internationale Perspektive. Das sächsisch-rheinische Textilmaschinenunternehmen Trützschler. Eine deutsch-deutsche Geschichte
Gastvortrag am Institut für Deutschlandforschung der Ruhr Universität Bochum, 29. April 2015
1938 feierte die Firma Paul Trützschler & Gey im südsächsichen Crimmitschau ihr fünfzigjähriges Bestehen. 1888 hatte Paul Heinrich Trützschler das Unternehmen gegründet. Er war als uneheliches Arbeiterkind geboren worden und hatte unter glücklichen Umständen eine Schlosserlehre absolvieren können. Mit großem Elan baute er einen Meisterbetrieb für die Reparatur von Textilmaschinen in Crimmitschau in Südsachsen auf. Daraus entstand unter geschickter Ausnutzung von Marktnischen im Bereich der Spinnereivorwerke sowie der Wiederverwertung von Textilien aller Art die Textilmaschinenfabrik Paul Trützschler & Gey. Seit 1920 lag die Geschäftsführung in den Händen der drei Söhne des Firmengründers Bruno, Willy und Karl Trützschler. Das Unternehmen hatte sich 1908 auf einem für damalige Verhältnisse recht großzügigen Fir-mengelände zwischen der Pleiße und der Trasse der Sächsischen Staatseisenbahn von Hof nach Dresden angesiedelt und sich seitdem zu einem beachtlichen Maschinenbauunternehmen entwickelt, das über eigene Patente verfügte und sich unter anderem der Entwicklung und Produktion von Reißmaschinen inklusive Entstaubung und Ablieferung sowie gesuchter Ersatzteile für die Vorwerke der Spinnereien widmete. Es handelte sich um eines der für die sächsische Industrie typischen mittelständischen Spezial-maschinenbauunternehmen.
Die Söhne führten die Erweiterung des Angebots und die Steigerung der Produktionsleistung konsequent weiter. Der älteste hatte eine technische Hochschulausbildung absolvieren dürfen, der jüngste hatte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs kaufmännische Erfahrung in einem französischen international operierenden Elektrounternehmen sammeln können. Der Ehrgeiz der Söhne richtete sich auf den internationalen Markt. Im Jubiläumsjahr 1938 waren die Maschinen von Paul Trützschler & Gey nicht nur im Deutschen Reich und Europa son-dern weltweit gefragt. Im Textilmaschinenbau waren die deutschen Produkte selbst den amerikanischen überlegen. Im Zeichnungssaal von Paul Trützschler & Gey entstanden im Zuge der Wirtschaftsblüte in den dreißiger Jahren standardisierte Angebotszeichnungen ebenso wie Pläne für Sonderanfertigungen für wichtige internationale zum Teil schon langjährige Kunden von Sao Paulo, Ägypten und Indien bis Westfalen, von London bis ins Saarland oder von Schweden bis in die Gebiete der 1939 aufgelösten Tschechoslowakei. Trützschler – so lautete seit 1933 das Firmenzeichen auf den Typenschildern – lieferte Ersatzteile und Maschinen, konzipierte aber mehr und mehr komplette Anlagen vom Ballenöffnen bis zur Vorlage an den Karden inclusive der Entstaubung und der pneumatischen Beschickung. Bei der Zellwolle-Bearbeitung und Produktion von Celluloid-Filmen nahmen die Crimmitschauer dank einer frühen Kooperation mit den I.G. Farben eine Schlüsselposition ein. Zum fünfzigsten Firmenjubiläum 1938 entstand auf dem inzwischen bereits zu eng werdenden Firmengelände ein neues Verwaltungsgebäude, das den Anspruch von Paul Trützschler & Gey auf Weltgeltung und Modernität zum Ausdruck brachte.
Im Zweiten Weltkrieg
Der Zweite Weltkrieg zerstörte die Hoffnungen auf eine zunehmende Präsenz von Paul Trützschler & Gey am Weltmarkt. Dabei spielten nicht nur die unterbrochenen Handelswege sondern auch die nunmehr beschränkten Rohstoffzuteilungen eine wichtige Rolle. Die Pro-duktion stockte auch wegen des Verlusts von Facharbeitern, die zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Auch diesem Unternehmen wurden Fremd- und Zwangsarbeiter zugeteilt, die jedoch in den meisten Fällen lediglich zu Hilfsarbeiten herangezogen werden konnten. Dazu konnten noch keine unmittelbaren Überlieferungen aufgefunden werden. Bei der späteren Übersiedlung in den Westen gingen die Unterlagen der Geschäftsführung verloren.
Die Maschinenbaufirma Trützschler konzentrierte sich darauf, bereits eingegangene Kontrakte einzuhalten und bestehende Kundenbeziehungen zu pflegen. Nebenbei tüftelte man weiter an der Verbesserung der Maschinen, wie auch dem Ersatz von Rohstoffen. Noch bis ins letzte Kriegsjahr belieferte das Unternehmen seine Kunden mit Kastenspeisern, Wickel- und Schlagmaschinen und schickte soweit möglich Ersatzteile rund um den Globus.
Der spätere Unternehmensgründer in Mönchengladbach-Rheydt Hans Trützschler, damals ein Junge von etwa 10 Jahren, kommentierte rückblickend die Zeit in den dreißiger Jahren so:
„Deutschland war für die meisten Bürger und besonders für die Jugend ein Käfig, aus dem man nur sehr schwer herauskommen konnte. Unsere Firma hatte ein umfangreiches Exportgeschäft, so dass mein Vater Auslandsreisen machen konnte. Dies bewunderte ich sehr und hatte keinen größeren Wunsch, als ebenfalls solche Reisen machen zu können. Diese vielen Kontakte meines Vaters führten bei ihm zu einer großen Skepsis gegenüber dem Regime, die ich als Hitlerjunge zunächst absolut nicht verstehen konnte, die mich aber doch auf das vorbereitete, das wenige Jahre später über uns hereinbrach.“
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden wie schon im Ersten Weltkrieg die metallverarbeitenden Firmen zur Herstellung von Granaten, Granatenhülsen und anderen Rüstungsgegenständen verpflichtet. Die sächsischen Textilmaschinenbauer erhielten den Sonderauftrag zur Produktion von U-Bootteilen später auch von Teilen für die sogenannten V-Waffen (Vergeltungswaffen) herangezogen. Dies entspricht auch mündlicher Überlieferungen in der Familie Trützschler. Um bei der Crimmitschauer Stadtverwaltung und dem Wehrwirtschaftsamt Baugenehmigungen und entsprechende Rohstoffzuteilungen zu erhalten, gab das Unternehmen 1940 an, man sei zu 50 Prozent mit Devisen bringenden Exportaufträgen ausgelastet. Die anderen 50 Prozent des Jahresumsatzes würden „Heeresaufträge für die Marine (Sonderstufe), Aufträge für die Luftwaffe, ein verbleibender Rest für versorgungspflichtige Inlandsaufträge in kriegswichtigem Sinne“ ausmachen. In einem Schriftwechsel mit der russischen Kommandantur in Crimmitschau 1946 verwies das Unternehmen allerdings darauf, dass die Produktion für die Rüstung nur 15 Prozent des Um-satzes ausgemacht hätte. Dafür spricht, dass bei Trützschler viele Arbeitskräfte zum Kriegsdienst abgezogen wurden, was bei wehrwirtschaftlich wichtigen Betrieben nicht der Fall war. Man kann davon ausgehen, dass beide Darstellungen über den Umfang der Rüstungsproduktion politisch überfärbt waren.
Freiwillig hatte wohl kaum einer der sächsischen Mittelständler im Maschinenbau die Pro-duktion umgestellt. Auch Bruno Trützschler war nicht zu einer völligen Unterordnung bereit. Am 9. August 1940 wurde er ins Amtsgerichtsgefängnis Crimmitschau gebracht und einen Tag später auf Anordnung der GESTAPO Plauen, Außendienststelle Zwickau ins Untersuchungsgefängnis Zwickau überwiesen. Als Grund für die Einlieferung wurde „Vergehen gegen die Kriegswirtschafts-VO“ angegeben. Diese Verordnung war am 4. September 1939 in Kraft getreten. Die Kriegswirtschafts-Verordnung stellte unter anderem den „volksschädlichen“ Umgang mit Lebensmitteln, Rohstoffen oder kriegswichtigen Erzeugnissen unter Strafe. Dabei gab man dem Ermessen der Richter viel Spielraum: Das Urteil konnte auf einen Tag Gefängnis oder Todesstrafe lauten, letztere wurde allerdings erst nach entsprechender Aufforderung durch Joseph Goebbels 1942 vermehrt verhängt. Bruno Trützschler kam 1940 nach einer Woche wieder frei.
Am 15. April 1945 erreichten die Amerikaner Crimmitschau, die Diktatur des „Dritten Reichs“ war nun auch für die Trützschlers vorbei.
Demontage und Beschlagnahmung
Entsprechend den Beschlüssen der sowjetisch-amerikanisch-britischen Konferenz von Jalta auf der Krim Anfang Februar 1945 erfolgte am Sonntag, dem 1. Juli 1945, die Übergabe der Stadt an die Sowjettruppen. Die Rote Armee besetzte Crimmitschau.
Die Betroffenen konnten sich noch Jahre später mit diesem Schicksal nur schwer abfinden. Die Bitterkeit von Hans Trützschler wird in einem Kommentar im Anschluss an eine Reise durch die DDR 1976 deutlich:
„Auf der Fahrt vom Grenzübergang Herleshausen durch Thüringen und Sachsen wurde mir bewusst, welch schöne und wertvolle Gebiete Deutschlands damals in Jalta an die Russen verschenkt worden sind, wie durch geograpisches Unkenntnis von Staatsmännern und Diplomaten das Schicksal von Millionen Menschen nachhaltig beeinflusst worden ist.“
Die Sowjetunion hatte nach immensen Kriegsverlusten ein hohes Interesse am schnellen Wiederaufbau ihres Landes. Für die Versorgung der Bevölkerung wurden Energie, Nahrungsmittel und Textilien gebraucht. Textilmaschinen und überhaupt Werkzeugmaschinen waren begehrte Reparationsgüter. Nach den Vereinbarungen der Siegermächte auf dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 hatte jede Besatzungsmacht das Recht, aus der ihr jeweils zugeteilten Zone Reparationen zur Entschädigung des eigenen Volkes einzufordern und abzuziehen.
Im September 1945 besetzten sowjetische Truppen das Werk. Bis Dezember wurde der Betrieb zu 93 % demontiert. Ein Teil des Bestandes war in einer beherzten Aktion von Fami-lien- und Belegschaftsmitgliedern vor der Demontage in Sicherheit gebracht worden.
Die Folgen der Demontage waren für die sächsischen Textilmaschinenunternehmen verheerend. Noch 1938 waren in der später sowjetisch besetzten Zone 69, 1 Prozent des gesamten deutschen Textilmaschinenbaus produziert worden. Nach den Demontagen lagen die Kapazitäten für die Produktion von Textilmaschinen in der Sowjetzone gerade noch bei 22 Prozent. Es war vollkommen unklar, wie und woher die fehlenden Maschinen ersetzt werden sollten, um die Textilproduktion in der sowjetisch besetzten Zone und weiteren Nachbarstaaten Osteuropas wieder anzukurbeln.
Noch in den letzten Kriegsmonaten und vor allem nach Beendigung der Kriegshandlungen entschieden sich viele Unternehmen aus Furcht vor einer Sowjetisierung für einen Wechsel in die westlichen Zonen. Auch bei Paul Trützschler & Gey dachte man zu dieser Zeit daran, die Firma in den Westen zu verlagern. Unter den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit wäre dies der richtige Zeitpunkt gewesen. Das Firmengelände war für die großen kompletten Vorspinnerei-Anlagen, die man als weltweit operierendes Unternehmen Paul Trützschler & Gey schon in den 1930er Jahren bauen wollte, längst zu klein geworden. Werkzeugmaschinen mussten ohnehin neu beschafft werden, die politische Situation bzw. die wirtschaftliche Zukunft in der Sowjetzone war bestenfalls schwer einschätzbar. Doch es sprachen auch schwerwiegende Gründe für das Bleiben: In Crimmitschau lebten die Familien und die Verwandtschaft. Hier hatte man gerade komfortable Villen errichtet. Hier ruhte der Gründervater Paul Trützschler in einem Grab, das noch heute zu den schönsten auf dem Crimmitschauer Friedhof zählt. Hier bestanden wichtige Kontakte im Maschinenbau wie auch in der Textilindustrie, hier war man in sächsischem Know-how und sächsischer Lebensart verwurzelt. Die Unternehmer und ihre Familien waren in der Kirchengemeinde, im Schützenverein und weiteren geselligen Vereinigungen aktiv. Aus diesen Gründen scheuten die Trützschlers vor dem radikalen Schnitt, dem Bruch mit der Tradition und dem Verlust der Heimat zurück. Dazu trat die im Rückblick wenig nachvollziehbare Hoffnung, dass sich alles noch immer zum Besseren bekehren könne. Man hatte kaum Maschinen, kaum Rohstoffe und Zulieferteile aber Unternehmergeist und Sachverstand. Der Neuanfang konnte aus dem Vermögen der Familie finanziert werden. Am 5. März 1946 beantragten Bruno, Willy und Karl Trützschler bei der Landesverwaltung Sachsen Abteilung Wirtschaft und Arbeit in Dresden die Genehmigung des Wiederaufbaus nach erfolgter Demontage.
Auf dem Wiederaufbau lag allerdings eine weitere schwere Hypothek: Die Firma Trützschler war wie viele andere aufgrund der Befehle Nr. 124 und 126 vom 30. und 31. Oktober 1945 von der Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) zu Eigentum von als Kriegsverbrecher eingestuften Personen erklärt, eingezogen und unter Treuhandschaft gestellt worden. Als Kriegsverbrecher galten, diejenigen Unternehmer, die für die Rüstung produziert hatten. Dies galt für alle Zonen. In Crimmitschau waren fünf Betriebe, darunter auch Paul Trützschler Gey, betroffen.
In den westlichen Zonen wurden die meisten Betriebe schnell wieder zurückgegeben.
In der SBZ sollte ein für den 30. Juni 1946 anberaumter Volksentscheid diese Maßnahme legitimieren. In 77, 62 Prozent der Fälle entschied die Bevölkerung, dass die Enteignung der Unternehmer zu Recht durchgeführt worden war. Die entsprechenden Betriebe wurden auf eine Liste A gesetzt, d.h. sie waren endgültig in Volkseigentum zu überführen. Letztendlich machten diese nur acht Prozent von allen meldepflichtigen Betrieben in der SBZ überhaupt aus. Darunter waren allerdings die bedeutendsten Unternehmen: Sie erwirtschafteten 40 Prozent der gesamten Industrieproduktion der Zone. Nach den Plänen der SMAD hätte unbedingt auch die Textilmaschinenfabrik Paul Trützschler & Gey dazu gehören sollen. Doch waren die Trützschlers nach Ermessen des Volkes keine Kriegsverbrecher: Die Einwohnerschaft Crimmitschaus entschied, dass dieses Unternehmen vom Land Sachsen zurückgegeben werden sollte. Damit gehörte das Unternehmen auf eine Liste B, auf die alle Unternehmen gesetzt wurden, die zurück in Privateigentum zu überführen waren. Doch Trützschler wurde auf eine Liste C gesetzt. Hier waren – wie ein Rundschreiben an die Landräte und Oberbürgermeister Sachsens vom 3. Juli 1946 verkündete – Betriebe aufgelistet, welche nicht sofort enteignet werden konnten, die jedoch trotzdem unbedingt zu enteignen waren:
„Es handelt sich dabei durchweg um die größten und entscheidendsten Betriebe, mit deren Rückgabe wahrscheinlich auf keinen Fall zu rechnen ist. Diese Betriebe gelten weiter als beschlagnahmt. Den Inhabern der Betriebe muss eine Mitteilung zugestellt werden, wonach dieser als beschlagnahmt gilt und niemand außer dem Bundesland Sachsen ohne Zustimmung der SMAD deshalb Verfügung über diesen Betrieb treffen kann.“
Bruno Trützschler war nie Parteigenosse gewesen, seine Brüder Willy und Karl zeitweilig. Keiner von beiden hatte jedoch ein Parteiamt innegehabt, auch hatte die Firma Paul Trütz-schler & Gey keine Parteispenden geleistet. Die Brüder Trützschler beeilten sich, dies beim Präsidial-Ausschuss der Block-Parteien der Landesregierung Sachsen nachzuweisen und gegen den fortgesetzten Eigentumsentzug durch das Land Sachsen zu protestieren. Erst im Juni 1947 hatten sie damit Erfolg. Die Landesregierung Sachsen, Ministerium für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung erteilte am 26.7.1947 dem Unternehmen offiziell die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Produktion.
Schon im Laufe des Jahres 1946 war die Arbeit in den Werkshallen von Trützschler wieder aufgenommen worden. Was die Beschaffung von Rohstoffen und Materialien, die bisher vielfach aus dem Westen geliefert worden waren, wie auch die innerdeutschen Liefer- und Zahlungswege anging, so musste eben auf ein wirtschaftliches und politisches Zusammenwachsen der vier deutschen Zonen vertraut werden.
Bis Ende 1946 änderte sich jedoch die politische Großwetterlage. Die Alliierten verfolgten in ihren Zonen zunehmend eigene Interessen. Am 1. Januar 1947 kam es zur Bildung der Bi-Zone, zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit der amerikanischen und britischen Zonen. Mit der Truman-Doktrin vom 12. März 1947 zeichnete sich eine neue Politik des Containments, der Eindämmung des sowjetischen Machtbereichs, ab. Im Juli 1947 schlug Wirtschaftsminister Byrnes im Rahmen der Außenministerkonferenz in Paris den wirtschaftlichen Zusammenschluss aller deutschen Zonen vor. Molotow wollte dem nur zustimmen, wenn die Regeln und Vorgaben der SBZ auf alle Zonen angewandt würden, das war unannehmbar. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass Deutschland auseinanderdriftete. Das Unternehmen Paul Trützschler & Gey bekam dies deutlich zu spüren.
Der Interzonenhandel wurde mehr und mehr eingeschränkt, die Kontrollen schärfer und Genehmigungsverfahren immer umständlicher. Natürlich arbeitete Trützschler mit Tricks wie viele andere Unternehmen in der sogenannten Ostzone auch. So erhielten die damals noch sehr zahlreichen Kunden in Italien durchaus Ersatzteile für ihre Trützschler-Maschinen. Allerdings nicht von Trützschler selbst sondern von der langjährigen Vertretung der Firma in Italien Luigi Winsemanns. Dieser ließ mit Einverständnis von Trützschler in einer kleinen italienischen Gießerei die benötigten Teile herstellen und gab sie an die Kunden weiter. Formmodelle oder entsprechende Konstruktionspläne hatte man ihm offensichtlich zu diesem Zweck zukommen lassen können.
Von Crimmitschau aus konnten im Geschäftsjahr 1946/47 lediglich 22 Maschinen ausgeliefert werden – die meisten davon gingen zu Betrieben in der SBZ, vor allem auch in die Filmfabrik Wolfen. Die Agfa Filmfabrik Wolfen war schon vor dem Krieg Kunde von Trützschler gewesen. Seit 1946 befand sie sich in sowjetischem Staatseigentum. Die Anlagen wurden demontiert und dienten zum Aufbau des Farbfilmwerks Nr. 1 der UdSSR in Schostka/Ukraine.
Trützschler sorgte sich um die internationale und vor allem westeuropäische Kundschaft. Wie sollte man den Service aufrecht halten, wie konnten neue Aufträge erfüllt werden? Daraus entstand spätestens 1947 bei Paul Trützschler & Gey die Idee einer engeren Zusammenarbeit mit der DESPAG (Deutsche Spinnereimaschinenbau Ingolstadt), die Trützschler-Maschinen in Lizenz bauen wollte. Mit diesem bayerischen Unternehmen hatte man bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mehrere große Aufträge abgewickelt. Ein Zusammengehen der beiden weltweit bekannten Spezialmaschinenbauunternehmen konnte Probleme bei der Beschaffung von Rohstoffen und Bauteilen sowie bei Lieferungen in den Westen lösen. Andererseits hätte Trützschler sich mit einer zu weit reichenden Lizenzvergabe in seiner Existenz gefährdet. Deshalb war der Schritt auch in der Familie umstritten.
Weder die SMAD noch die am 4. Juni 1947 gebildete Wirtschaftskommission des Landes Sachsen konnten ein Interesse daran haben, dass sich die Unternehmerfamilie Trützschler mit den Umständen arrangierte und wieder fest etablierte. In der sowjetisch besetzten Zone sollte ein großes volkseigenes Kombinat für den Bau von Maschinen der Textil- und Bekleidungsindustrie aufgebaut werden. Für diesen VEB Textilmaschinenbau Karl-Marx-Stadt war Paul Trützscher & Gey mit seiner Produktpalette für die Vorspinnerei fest eingeplant. Die Frage war nun, wie ein Enteignungsverfahren plausibel und entsprechend den Rechtsnormen der neuen noch in der Entwicklung befindlichen sozialistischen Gesellschaft durchgeführt werden konnte.
Die Übersiedlung des Unternehmens in den Westen
In etwa zeitgleich mit der Errichtung der Bizone, also zum Jahreswechsel 1946/47, begann der SMAD, Druck auf die Unternehmerfamilie Trützschler aufzubauen. Dieser richtete sich zunächst gegen die beiden Unternehmenserben, auf Hans, den ältesten Sohn von Karl Trütz-schler, und auf Hermann, den einzigen Sohn von Willy Trützschler. Bruno Trützschler hatte keine Kinder.
In dieser Zeit wurde der 19jährige Hans Trützschler mehrmals von sowjetischen Agenten verhört. Es folgte die Nachricht, dass er mit einer Zwangsverpflichtung im Uranbergbau der Sowjetischen AG „Wismut“ in Annaberg zu rechnen habe. Die Familie beschloss, den Neun-zehnjährigen, der unter den herrschenden Verhältnissen keine Chancen auf ein Studium noch auf eine adäquate berufliche Ausbildung hatte, nach Westdeutschland zu schicken. Im niederrheinischen Textilzentrum hatte Trützschler viele Kunden. Der in dieser Region schon lange Jahre als Vertreter des Unternehmens Paul Trützschler & Gey fungierende Kurt Müllges besorgte für Hans Trützschler die aufgrund der großen Wohnungsnot in den zerstörten rheinischen Städten am Niederrhein schwer zu erhaltende Zuzugsgenehmigung und eine Stelle als bezahlter Praktikant in einer Spinnerei. Es wird den rührigen Handelsvertreter sehr gefreut haben, dass der junge Mann bereits etliche Konstruktionspläne für Trützschler Maschinen im Gepäck versteckt über die Grenze mitbrachte. Womöglich dachte man auch für die niederrheinische Region bereits über ein ähnliches Geschäftsmodell wie in Italien nach.
Sein drei Jahre älterer Cousin Hermann Trützschler erhielt Ende April 1947 die Aufforderung, sich im Uranbergbau Annaberg als Arbeitskraft zu melden. Da er nach der Flucht von Hans Trützschler eine Überwachung befürchten musste, arbeitete er bis Ende Mai übertage in Annaberg. Dann verließ auch er die SBZ und ging zu seinem Cousin nach Rheydt (heute ein Stadtteil von Mönchengladbach), wobei auch diesmal wieder Kurt Müllges behilflich war. Auch Hermann Trützschler fand zunächst eine Anstellung als Praktikant bei einem ehemaligen Kunden von Paul Trützschler & Gey.
Die schnelle Instandsetzung der Textilbetriebe nach dem Zweiten Weltkrieg konnte nur mit Hilfe eines leistungsfähigen Textilmaschinenbaus gelingen. Textilien wurden von der deutschen Bevölkerung, die im Krieg vielfach alles verloren hatte, dringend gebraucht. Aber auch am internationalen Markt war der Bedarf groß. Rohstoffe standen in mehr als ausreichenden Mengen zur Verfügung, so dass gewinnbringende Exporte erwartet werden konnten. Im Westen insbesondere am Niederrhein war ein großer Teil der Textilbetriebe zerstört worden, während andererseits im westdeutschen Textilmaschinenbau ganze Produktgruppen fehlten, die bisher nur in Sachsen – eben auch von Trützschler – hergestellt worden waren.
Der Wirtschaftsrat der Bizone förderte die Übersiedlung der bekanntesten und wichtigsten Unternehmen aus Sachsen. Treibende Kraft war Dr. Eduard Strauss, der seit 1936 in Chemnitz für die Fachgruppe Textilmaschinen im VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer) sowie die Kartellgemeinschaft der deutschen Textilmaschinenindustrie gearbeitet hatte und im Zweiten Weltkrieg Geschäftsführer beider Verbände geworden war. Er hatte nach Beendigung der Kriegshandlungen zunächst versucht, den Textilmaschinenbau in Sachsen wieder anzukurbeln. Doch schon nach wenigen Monaten war er zur Übersiedlung in den Westen bereit. Die britische Militärregierung war ihm und seiner Familie dabei behilflich. Strauss erhielt eine Funktion als Referent für den „Leichten Maschinenbau“ im Zentralamt für Wirtschaft in der britischen Besatzungszone, später der Bizone. In dieser Funktion wie auch seit Oktober 1948 als Geschäftsführer der wieder aufgebauten Fachgemeinschaft Textilmaschinenbau im VDMA mit neuem Sitz in Frankfurt am Main stand er der Familie Trützschler bei ihren Überlegungen über eine Lizenzvergabe an die DESPAG in Ingolstadt oder den Aufbau eines Ersatzteilwerkes beziehungsweise einer Filiale in Rheydt und schließlich bei der vollständigen Verlagerung des Unternehmens in den Westen mit Rat und Tat zur Seite.
Nach intensiven Diskussionen zwischen Bruno, Willy und Karl Trützschler wurde im Herbst 1947 die Gründung eines Trützschler-Standortes im Westen endgültig entschieden. Dabei war ausdrücklich nicht von einer kompletten Übersiedlung die Rede, vielmehr sprach man zunächst von einem „Zweigbetrieb Rheydt“ . Bruno Trützschler hielt sich nun immer wieder für längere Zeit auch am Niederrhein auf, um mit Kurt Müllges und Vertretern der Spinner am Niederrhein das Vorhaben weiter zu konkretisieren und notwendige Maßnahmen wie Behördengänge etc. in die Wege zu leiten.
Der Familie war die Gefahr dieses Schrittes bewusst. Die Bespitzelungen durch den SMAD wurden registriert, in ihren Ausmaßen aber nicht erkannt.
Im Januar 1948 trat Trützschler & Co. offiziell am Standort Rheydt ins Leben.
Wie die Familie als deutsch-deutsches Unternehmen wirtschaften wollte, ist nicht mehr genau nachzuvollziehen. Nach Erinnerungen von Hans Trützschler glaubten viele Deutsche in der SBZ noch standhaft an die Möglichkeiten einer Wiedervereinigung, während bei anderen das Bewusstsein, dass „die sowjetische Besatzungszone vom restlichen Deutschland abgetrennt würde“, immer stärker wurde. In der Familie Trützschler wurde die Standortgründung im Westen insbesondere von Karl Trützschler, dem Kaufmann der Familie und jüngstem Inhaber, sowie seinem Sohn Hans sowie seinem Neffen Hermann vorangetrieben.
Karl Trützschler unterstützte von Crimmitschau aus wohlwollend die Aufbauarbeit seines Sohnes und seines Neffen. Seine Briefe schwankten zwischen Traditionsbewusstsein und der Bereitschaft, sich den neuen Verhältnissen anzupassen und konsequent darauf zu reagieren:
„Wir leben in einer außerordentlich bewegten Zeit und es müssen oft schnelle Entschlüsse gefasst werden und dies meist unter besonderen Umständen…. Du weißt ja, die eine Zeit bleibt der anderen nichts schuldig und wir wollen schließlich die „Trützschlers“ bleiben, die wir waren… Vor allem aber wollen wir den Namen Trützschler in guter Geltung zu halten versuchen, dann wird sich alles weitere von selbst und leichter gestalten.“
Der SMAD beziehungsweise die Wirtschaftskommission des Landes Sachsen registrierten jedes Vergehen der Trützschlers gegen Militärbefehle und Wirtschaftsverordnungen, allerdings ohne vorerst einzuschreiten. Stattdessen wurde Beweismaterial gesammelt – die Agenten waren sowohl im Westen wie im Osten tätig. Betriebsrat und Gewerkschaftsgruppenleitung stellten sich gegen die Geschäftsinhaber und erhoben massive Vorwürfe. Trützschler wurde als reaktionäres, NSDAP-nahes Rüstungsunternehmen dargestellt. Jetzt kam es auch zu Verhören und kurzfristigen Inhaftierungen der Firmeninhaber.
Ein Hinweis aus dem Betriebsrat lieferte am 5. April 1948 (zwei Tage zuvor war das European Recovery Programm des amerikanischen Außenministers George C. Marshall in Kraft getreten) der Staatsanwaltschaft Zwickau den Anlass für eine gründliche Werks- und Hausdurchsuchung bei den Trützschlers. Man fand deklarierungspflichtige aber nicht angegebene Materialien, Zulieferteile und Werkzeuge auf dem Firmengelände, in den Privatvillen aber auch in der Textilfabrik der mit den Trützschlers verschwägerten Gebrüder Pfau. Die Beweislage reichte für eine umgehende Inhaftierung von Karl und Willy Trützschler. Auch Bruno Trützschler wurde angeklagt, er befand sich jedoch gerade wieder einmal im Westen. Eine Rückkehr nach Crimmitschau war für ihn nun unmöglich geworden. Ihm drohte ebenfalls die sofortige Verhaftung. Nach längerer Krankheit starb er 22. Januar 1949 in Rheydt.
Nach der Inhaftierung der beiden Geschäftsführer bestellte die Regierung des Landes Sachsen einen Treuhänder, der bis zur endgültigen Überführung von Paul Trützschler & Gey in Volkseigentum das Werk leiten sollte. Die Söhne in Rheydt, Hermann und Hans Trützschler, hatten seitdem und endgültig keine Möglichkeit mehr, Lieferungen aus dem väterlichen Unternehmen zu beziehen.
Paul Trützschler & Gey war zwischen die Fronten des sich anbahnenden Kalten Krieges gera-ten. An ein Festhalten des Standorts Crimmitschau war endgültig nicht mehr zu denken, die Zukunft des Unternehmens lag nun allein im Westen.
Nun konnte es nur noch darum gehen, so schnell wie möglich eine eigene Produktion am neuen Standort Mönchengladbach-Rheydt aufzubauen. Verstärkt bemühten sich Belegschafts- und Familienmitglieder, Konstruktions-, Patent- und Offertenzeichnungen, die im Zeichnungssaal des 1938 errichteten neuen Verwaltungsgebäudes in Crimmitschau fein säuberlich sortiert lagerten, in den Westen zu schmuggeln. Das war Wirtschaftssabotage und gefährlich.
Obwohl Willy und Karl Trützschler bis zum Beginn der Gerichtsverhandlung im Frühjahr 1949 immer wieder abwechselnd für kurze Phasen aus der Haft entlassen wurden, nutzten sie diese nicht zur Flucht. Möglicherweise wollten sie sich gegenseitig oder auch ihre Familien nicht gefährden. Noch immer waren sie bereit, um die Existenz des Werkes in Crimmitschau zu kämpfen- „bis zum letzten Atemzuge“ , wie Karl Trützschler in seiner Verteidigungsrede am Prozesstag versicherte.
Dieser Prozess fand am 30. Mai 1949 vor der 9. Große Strafkammer des Landgerichts Zwickau statt. Angeklagt waren Willy und Karl Trützschler sowie auch der verstorbene Bruno Trützschler wegen „Wirtschaftssabotage in Tateinheit mit Wirtschaftsverbrechen“. Noch am gleichen Tag erfolgte das Urteil: Fünf Jahre Zuchthaus unter Anrechnung der bisher erlittenen Polizei- und Untersuchungshaft, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Entzug des Eigentums an der Firma Paul Trützschler & Gey verbunden mit dem Verbot, einen wirtschaftlichen Betrieb in leitender Tätigkeit in dieser Zeit führen zu dürfen.
Die Staatsanwaltschaft legte den Angeklagten Schiebung in die „vom amerikanischen Imperialismus beherrschenden Westzonen“ zur Last und verwies unverblümt darauf, dass dem Crimmitschauer Textilmaschinenbauunternehmen eine Schlüsselrolle für den wirtschaftlichen Aufbau im Osten beigemessen wurde:
„Gerade der Betrieb der Angeklagten ist für die Entwicklung einer demokratischen Friedens-wirtschaft für die Bevölkerung der Ostzone von ausschlaggebender Bedeutung. Der Bedarf südosteuropäischer Firmen an Textilmaschinen ist, wie allgemein bekannt, ein sehr großer. Gerade dieser Spezialbetrieb bedeutet für die Entwicklung der deutschen Friedenswirtschaft wegen des Exportes nach den südosteuropäischen volksdemokratischen Ländern die Grund-lage unseres Außenhandels.“
Die Behörden der DDR gaben 1955 zu, dass die posthume Verurteilung des im Januar 1949 verstorbenen Bruno Trützschler einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellte, jedoch aus wirtschaftlichen Gründen unumgänglich war. Lisbeth Trützschler, die Erbin und Witwe von Bruno Trützschler kämpfte bis zu ihrem Tod Anfang Januar 1957 vergeblich um eine Aufhebung des Urteils und Anerkennung ihres rechtmäßigen Eigentums an einem Drittel der Firma. Hätte man ihren Forderungen stattgegeben, wäre eine vollständige Enteignung von Paul Trützschler und Gey und die reibungslose Eingliederung in die volkseigenen Textima Werke nicht möglich gewesen. Erst den Erben von Lisbeth Trützschler wurde eine Entschädi-gung zugestanden, die allerdings aus dem DDR-Staatshaushalt bestritten wurde, um den VEB Spinnereimaschinen nicht zu belasten.
Die Haftbedingungen für Willy und Karl Trützschler waren zermürbend. Willy Trützschler starb im Dezember 1952 während der Haftzeit. Der ebenfalls schwer erkrankte Karl Trützschler wurde nach Verbüßen der Haftzeit im Februar 1953 aus dem Zuchthaus Zwickau entlassen, allerdings unter den Auflagen einer zweijährigen Bewährung und dem Verbot, seine ehemalige Firma zu betreten oder sonst ein anderes Unternehmen zu gründen. Zusammen mit seiner Familie flüchtete er in den Westen, um im neuen Trützschler-Unternehmen in Mönchengladbach-Rheydt die Rolle eines Seniorchefs anzunehmen.
Seit 1947 hatten Hermann und Hans Trützschler auf dem Trümmergrundstück einer ehemaligen Spinnerei den Betrieb aufgebaut. Für die Beschaffung gebrauchter und neuer Werkzeug-Maschinen leistete die Textilwirtschaft im Rheinland und in Westfalen Kredite, die in Form von Wartungsdiensten, Reparaturen, Ersatzteilen und wenig später auch neuen Textil-Maschinen wieder zurückgezahlt wurden. Insbesondere der führende Mönchengladbacher Textilfabrikant Heinrich Pferdmenges (Baumwollspinnerei Pferdmenges & Scharmann) und nach seinem Tod 1947 sein Sohn Hans dirigierten die beiden jungen Unternehmer aus Crimmitschau durch die rheinische Bürokratie und machten sie in Unternehmerkreisen bekannt.
Noch bis in die 1960er Jahre wechselten Mitglieder der Crimmitschauer Stammbelegschaft nach Rheydt. Ein besonderer Verlust für die bis zum 31. 12 1951 unter Treuhänderschaft stehende und erst dann in die VEB Spinnereimaschinenbau eingegliederte Firma Paul Trütz-schler & Gey war dabei der leitende Entwicklungsingenieur Erich Meinicke, der mit Hilfe von Hans Trützschler in den Westen floh. Meinickes Arbeit wurde von Sachsen aus weiterhin aufmerksam verfolgt.
Vor allem mit seiner Hilfe positionierte sich Trützschler wieder am Weltmarkt. Alle Neuentwicklungen, die Trützschler auf Messen in den 1950er und 1960er Jahren vorstellte wurden von Beobachtern des VEBs in Karl-Marx-Stadt genau registriert. Detaillierte Berichte und Prospektmaterial erreichte die Leitung der Textima und wurde von dieser an das ehemalige Trützschler-Stammunternehmen in Crimmitschau weitergereicht. Hier arbeitete man mit den verbliebenen Konstruktionszeichnungen aus den 1920er und 1930er Jahren, die hier genauso wie die in den Westen geschmuggelten, als Basis für die Weiterentwicklungen der Maschinen dienten. Textima-Beobachter waren auch auf der Hannover-Messe und den ersten Textilmaschinenbau-Messen nach dem Krieg in Lille, Brüssel oder Basel präsent. Die Textima selbst stellte zum ersten Mal 1971 in Paris aus und trat nach Aussage von dama-ligen Fachbesuchern danach kaum mehr in Erscheinung.
Andererseits war Trützschler schon 1970 auf der INLEGMASCH, der Maschinenbaumesse in Moskau präsent.
Der Erfolg von Hermann und Hans Trützschler beruhte auch darauf, dass deutsche, europäische und internationale Kunden Trützschler die Treue hielten – sofern sie nicht zu den neuen RGW-Ländern gehörten. Die Kunden richteten zunächst ihre Wünsche und Bestellungen weiterhin an die gewohnte Adresse in Crimmitschau, wurden aber sehr schnell auf die Neugründung in Rheydt aufmerksam gemacht – und zwar von einem Mitarbeiter in Crimmitschau, dem Finanzbuchhalter Fritz Wunderlich, der bis zu Beginn der 1950er Jahre in Crimmitschau bei der alten Firma blieb und Schreiben früherer internationaler Kunden in Kopie nach Rheydt weiterleitete. Erst zu Beginn der 1950er Jahre ging er in den Westen, um bei Trützschler in Rheydt mitzuarbeiten. In dieser Zeit war Trützschler wieder auf internati-onalen Fach-Messen präsent.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Trützschler enge Beziehungen zu indischen Geschäftspartnern aufgebaut. So hielt sich noch kurz vor Ausbruch des Krieges für einige Monate der Sohn eines dieser indischen Kunden als Praktikant im Crimmitschauer Unterneh-men auf. Daraus wurde eine Familienfreundschaft, die sofort nach dem Krieg wieder aufgenommen wurde. Ein anderer indischer Kunde sorgte über Beziehungen in die USA dafür, dass Trützschler mit Care-Paketen versorgt wurde. Aufgrund der Bedeutung des indischen Marktes führte die erste große Geschäftsreise von Hans Trützschler nach Indien. Das war 1953, kurz nach seiner Hochzeit. Die Reise dauerte mehrere Wochen und sollte dazu dienen, eine zuverlässige Vertretung für Trützschler in Indien zu finden.
1955 absolvierten die Trützschler Monteure ihre ersten längeren Auslandsaufenthalt. Für zwei bis drei Jahre waren sie in Ägypten damit beschäftigt, Maschinenanlagen aufzubauen. Das Unterfangen wurde durch die vom ägyptischen Ministerpräsidenten Abd el Nasser mit Großbritannien ausgefochtene Suez-Krise unterbrochen, dann aber erfolgreich beendet.
Die Trützschler Mitarbeiter lernten, im Ausland nicht nur mit politischen Krisen umzugehen sondern auch technologische Herausforderungen zu meistern: als die ersten Schaltschränke nach Indien geliefert wurden, empfahlen sie im Bericht an die Geschäftsführung in Mön-chengladbach dringend eine „ratttensichere“ Abdichtung von Schaltschränken.
Den südostasiatische Markt deckte Trützschler ab 1957 über eine Zusammenarbeit mit der Tri-Union Managment Company in Hongkong abgedeckt. Der Bitte Chinas, je eine Trützschler-Maschine zu liefern, kam man 1960 nach, wohl wissend, dass diese nicht der Garnproduktion dienen sollten, sondern Muster für den Nachbau waren.
Zu dieser Zeit gehörte die Führungsrolle auf dem Textilsektor jedoch noch der USA und Indien. In den 1960er Jahren begann Trützschler, sich in den florierenden Textilmaschinenmarkt der USA einzumischen – zunächst durch Kooperation mit einer amerikanischen Firma, dann mit eigener Produktionsstätte und der Gründung des ersten Tochterunternehmens im Ausland. Ähnliche Schritte hatte man zu dieser Zeit auch in Indien eingeleitet.
1978 nahm Hans Trützschler an einer 12köpfigen deutschen Managerdelegation nach China teil und erhielt einen ersten Eindruck über den noch weitgehend brachliegenden riesigen Markt in der Volksrepublik. Daraus entstanden lockere Beziehungen zum Ministerium für Textilmaschinenbau in China.
Ägypten legte 1965 den Grundstein für die diplomatische Anerkennung der DDR im Nahen Osten. Aus Dankbarkeit intensivierte Walter Ulbricht die wirtschaftlichen Beziehungen zu diesem Land. Mit dem Bau des Assuan Staudamms sollte 1971 den umgesiedelten ehemali-gen Bauern neue Arbeitsmöglichkeiten in der Textilindustrie ermöglicht werden. Baum Aufbau der neuen Textilfabriken versprach die DDR die Unterstützung durch Lieferung der Textilmaschinen. Leider war die Textima nicht in der Lage, die erforderlichen Vorspinnmachinen zu liefern. Um die Ägypter nicht zu enttäuschen, bat Ulbricht (nolens volens) Trützschler in Rheydt um Hilfe. Hier freute man sich über den lukrativen Auftrag, bestand jedoch darauf, dass den Maschinen nicht wie DDRseits gewünscht Textima Schilder aufgeschraubt wurden sondern die eigenen Trützschler-Typenschilder. Der Handel wurde unter Zuhilfenahme der Interzonenhandelsstelle des Regierungspräsidenten in Düsseldorf abgewickelt.
Unter den alten Korrespondenzunterlagen in der Firma fand sich auch ein Briefwechsel aus den 1960er Jahren mit einem ehemaligen Trützschler-Kunden in Jugoslawien, heute Slowenien, der genaue Auskunft über eine neu entwickelte Maschine für das Öffnen der Baumwollballen erhielt – inclusive Großdias mit Maschinenzeichnungen.
Zum 75jährigen Betriebsjubiläum erschien 1963 die erste Firmenchronik. Natürlich wurde darin der Standortwechsel von Sachsen an den Niederrhein thematisiert und hübsch illustriert, aber nicht historisch aufgearbeitet. Viel mehr Augenmerk legte man in der aufwändig gestalteten Publikation darauf, Trützschler wieder als leistungsfähiges, weltweit operierendes Unternehmen darzustellen. Expansion und Zukunft beherrschten die Themen.
Trützschler sammelte in den folgenden Jahren weitere Patente, baute die Produktionslinien weiter aus und gründete als eines der ersten deutschen mittelständischen Unternehmen überhaupt global verteilt Vertriebsniederlassungen sowie Tochterunternehmen in den USA (1969), Brasilien (1975), Indien (1978), zuletzt auch Shanghai (2001).
Doch diese Konzentration auf die Herausforderungen der Gegenwart bedeutete nicht, dass die Vergangenheit verdrängt oder vergessen wurde. Insbesondere Hermann Trützschler pflegte die sächsische Tradition und seinen sächsischen Dialekt. Er sammelte Nachrichten und Publikationen aus Crimmitschau und war bei Alumni-Treffen seines Internats präsent. Er, der ältere der beiden Firmeninhaber, unterstützte den Aufbau der internationalen Standorte und Kundenbeziehungen von Trützschler nach Kräften und blieb doch der bodenständige verlässliche sächsische Maschinenbauer und Unternehmenschef. Sein jüngerer Kompagnon Hans Trützschler übernahm dagegen die Rolle des hochdeutsch sprechenden, schnell an das rheinische Unternehmertum angepassten, auf internationaler Bühne sicher agierenden Kaufmannes. Er trat in die CDU ein und übernahm wichtige Führungspositionen innerhalb des Textilmaschinensektors der VDMA .
Der Aufbau der drei Tochterfirmen in den USA, Brasilien und Indien in den 1980er Jahren erforderte ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Kraft des Mutterunternehmens in Mön-chengladbach. Ein dichtes Netz von Trützschler eigenen Handels- und Servicevertretungen zog sich von einem Textilland zum nächsten über den Globus.
Zum hundertjährigen Firmenjubiläum 1988 erschien keine Festschrift sondern lediglich eine Imagebroschüre.
Keine Wiedervereinigung
Niemand konnte im Jubiläumsjahr ahnen, dass ein Jahr später die deutsch-deutsche Teilung ihrem Ende entgegen gehen würde. Die sich anbahnende Perestroika war allerdings bei den Textilmaschinenherstellern in Mönchengladbach bereits angekommen.
1987/88 erhielten sie einen großen Gemeinschaftsauftrag für den Aufbau einer Textilfabrik in Riga, es war – vier Jahre vor der Auflösung der Sowjetunion – der erste Großauftrag in der UdSSR. Der Austausch mit internationalen Kunden und die Tätigkeit beim VDMA führten mit Sicherheit auch zu einem ziemlich genauen Bild über den Zustand des Textilmaschinenbaus in der DDR. Seit 1986 war ein drastischer Rückgang in der Produktion des Spinnereimaschi-nenbaus in der DDR registriert worden. Hauptabsatzmärkte waren die UdSSR und weitere Ostblockländer, dann mit Abstand Kuba, Italien und Brasilien. 1987/88 versuchte Trützschler mit der Textima eine Kooperation zur Fertigung von Deckelstäben für die Karden – allerdings kam diese Kooperation aufgrund von technischen Schwierigkeiten und daher einer zu langsamen und geringen Fertigungsmöglichkeit in dem Textima-Zweigwerk nicht zustande.
Es ist wohl anzunehmen, dass die deutschen Unternehmer besser und früher über den desaströsen Zustand vieler Unternehmen der DDR informiert waren, als die führenden Politiker zur Zeit der Wende. Die Familie Trützschler hatte zudem über die Jahrzehnte der Trennung hinweg familiäre und freundschaftliche Kontakte nach Südsachsen unterhalten.
Von daher konnten sie sich über den Zustand ihres alten Stammwerks keine Illusionen ma-chen.
Trotzdem ließ sich auch Trützschler kurzfristig von der euphorischen Woge der Wiedervereinigung erfassen.
Die Unternehmensberater Roland Berger & Partner erhielten bereits einen Monat nach Fall der Mauer ihren ersten Beratungsauftrag von einem DDR Kombinat. Auch die Organisationsstruktur der Treuhand und ihrer 15 Außenstellen stammte schließlich von Roland Berger. Die Wirtschaftsexperten hielten mit ihrer Diagnose der darniederliegenden DDR-Unternehmen nicht hinter den Berg und stellten auch dem VDMA eine Expertise zur Verfügung: zu hohe Stückkosten, zu niedrige Produktivität, ein immenser Personalüberhang, zu hohe Fertigungstiefen, zu viele Dienstleistungsfunktionen, mangelnde Marktorientierung, das Auseinanderfallen der Ostmärkte, Infrastrukturprobleme, unsichere, bzw. nicht für die Marktwirtschaft ausgebildete Manager.
Trotzdem versprach Roland Berger, dass die DDR bis zur Jahrtausendwende das „Japan des europäischen Binnenmarkts“ werden könne und man schon 1995/6 im industriellen und im Dienstleistungssektor westdeutsches Niveau erreichen werde. Bundeskanzler Kohl stand mit seinem Versprechen von blühenden Landschaften in der ehemaligen DDR also nicht so ganz alleine.
Nach dem Gesundungsrezept von Roland Berger sollten westliche Investoren die Verantwortung für den Fortbestand von DDR-Unternehmen übernehmen. Wichtig wäre der Aufbau eines neuen Mittelstands. Schon im März 1990 stand der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ fest.
Im Frühjahr und Frühsommer 1990 wurden die Treuhandgesetze zur Privatisierung volksei-genen Vermögens erlassen. Die Region Chemnitz hatte die höchste Zahl an Reprivatisie-rungsanträgen zu bearbeiten.
Auch das ehemalige Trützschler-Werk in Crimmitschau hoffte auf Privatisierung durch einen Mittelständler, in erster Linie richtete sich diese Hoffnung auf die Vorbesitzer in Mönchen-gladbach.
Die Geschäftsleitung von Trützschler war grundsätzlich und unmittelbar zum Engagement bereit. Schon am 19. Dezember 1989 wandte sie sich an den Generaldirektor der Textima Rudi Rosenkranz in Karl-Marx-Stadt, bzw. Chemnitz. Trützschler verwies darauf, dass man schon vor einigen Jahren eine Zusammenarbeit mit der Textima angestrebt habe, dies zwar ohne Erfolg, aber nun wolle man es unter den günstigeren Bedingungen wieder versuchen. Als Antwort erhielt die Geschäftsführung einen Weihnachtsgruß von der Textima. Der 52jährige Rosenkranz, der 1984 von der Universität Chemnitz die Ehrendoktorwürde erhal-ten hatte und für 30.000 Belegschaftsmitglieder verantwortlich war, hüllte sich in Schwei-gen. Laut Spiegel vom 11. Dezember 1989 trug er noch immer mit Stolz sein SED-Parteiabzeichen am Revers, hatte sich aber längst resigniert eingestanden, dass er seinen Stuhl abgeben müsse.
Etwa zur gleichen Zeit wandte sich auch die Betriebsgewerkschaftsleitung der Textima in Crimmitschau an Generaldirektor Dr. Rosenkranz und bat diesen, beim ehemaligen Firmen-inhaber im Westen Kontakt aufzunehmen, um Möglichkeiten der Kooperation zu sondieren. Da man von Rosenkranz nichts hörte, suchte Herr Ey, Vorsitzender der Betriebs-Gewerkschaftsleitung des Werkes Crimmitschau, Stammbetrieb des Kombinates Textima VEB Spinnereimaschinenbau Karl-Mark-Stadt, am 10. Januar 1990 selbst den Kontakt zu Trützschler in Mönchengladbach, und zwar mit einem Schreiben an den Vorsitzenden des Betriebsrates von Trützschler. Diesem teilte man die Sorge mit, dass der Stammbetrieb der Textima die Produktion Mitte der 1990er Jahre ganz einstellen werde. Damit sei das Be-triebskollektiv aber nicht einverstanden. Man erinnerte an die 100jährige Unternehmenstra-dition in Crimmitschau, die nicht untergehen dürfe. Auch die DDR-Belegschaft sah sich als Erbe und Nachfolger von Paul Trützschler & Gey.
Man fürchtete also keinen schnellen Konkurs sondern erwartete, dass die Textilmaschinen-fabrik der Textima in Crimmitschau den nächsten 5-Jahresplan überstehen würde, also noch bis Mitte der 1990er weiter produziert werden könne. Zugleich richteten sich die Hoffnun-gen der Belegschaft auf die „alten Firmenchefs“ sowie die Solidarität und Unterstützung der Trützschler-Belegschaft in Mönchengladbach.
Der Vorsitzende des Betriebsrats in Mönchengladbach antwortete Mitte Januar 1990 der Betriebsgewerkschaftsleitung in Crimmitschau, man hätte alles mit der Geschäftsleitung besprochen und hoffe nun, dass es bald „eine Besserung in Richtung auf eine freie Marktwirtschaft“ gebe. Der „Hilferuf aus Sachsen“ war dem Betriebsrat von Trützschler und einigen nordrhein-westfälischen Landespolitikern sogar eine Pressemitteilung wert. Noch hielt man ein mögliches Engagement in der Schwebe. In der rheinischen Presse wurde schon über eine „Produktionsverlagerung“ spekuliert, obwohl bekannt war, dass das Werk in Crimmitschau technisch hoffnungslos veraltet war.
Acht Monate später war das Thema endgültig vom Tisch. Die Rheinische Post berichtete am 3. Oktober 1990, dem Tag des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutsch-land, dass es in Zukunft keinen Produktionsstandort von Trützschler in der ehemaligen DDR geben werde. Heinrich Trützschler, Firmenchef in 4. Generation, versicherte, Trützschler bleibe ausschließlich im Westen. Die asiatischen Märkte lockten: Das Mönchengladbacher Unternehmen hatte in diesem Jahr eine neue große Produktionshalle mit innovativen Mon-tagebändern für Karden eröffnet und eben erst eine Aufstockung und Erweiterung seines Verwaltungsgebäudes beschlossen. Gleichzeitig verwies Heinrich Trützschler darauf, dass das Unternehmen neue Mitarbeiter suche. Etliche neue gut ausgebildete Fachkräfte kamen aus dem sächsischen Textilmaschinenbau, Außendienstmitarbeiter insbesondere aus Crimmitschau.
Im Juli 1990 hatte Hermann Trützschler mit Tochter und Schwiegersohn, seinem Nachfolger im Unternehmen, Crimmitschau besucht und sich zuvor im ehemaligen Firmenstammsitz zur Betriebsbesichtigung angemeldet, bzw. höflich darum ersucht. Zu diesem Anlass holte die Belegschaft das nach 1949 ausgebaute Jubiläumsgeschenk von 1938 aus seinem Versteck und baute es am angestammten Platz im Treppenhaus des Verwaltungsgebäudes wieder ein. Trotzdem verlief dieser Besuch für beide Seiten enttäuschend. Hermann Trützschler war schockiert über unschöne bauliche Veränderungen und den technischen Rückstand in den Werkshallen. Im August wurde die Crimmitschauer Belegschaft zum Gegenbesuch in Mön-chengladbach empfangen, doch wartete sie vergeblich auf eine Übernahme-Zusage oder dauerhafte Produktionsvereinbarungen.
Im September 1990 stellte die Textima ein letztes Mal auf der traditionellen Leipziger Messe aus. Das alte Zentrum des Handels unter den RGW-Ländern war nun – wie der Spiegel am 10. September 1990 berichtete, zur „Klagemauer des sozialistischen Handels“ geworden. Die Textima hatte bisher rund 80 Prozent ihrer Produktion in die sogenannten Ostblock-Länder, vor allem die Sowjetunion, verkauft. Mit Auslaufen des 7. Fünf-Jahres-Plans am Ende des Jahres waren keine neuen Aufträge mehr zu erwarten. Seit Einführung der D-Mark zog es auch die Delegationen der ehemaligen sozialistischen Freundschaftsstaaten zum Einkau-fen in den Westen.
Das Unternehmen Trützschler hatte seit einigen Jahren über eine Ausweitung seiner Pro-duktlinie nachgedacht. Vor allem entwicklungsintensive Maschinen der Vorspinnerei wie Ringspinnmaschinen, Flyer und Kämmmaschinen fehlten im Programm. An der Kämmma-schine des Unternehmens Chemnitzer Spinnereimaschinen (CSM), ehemals wie das Trützsch-ler-Stammwerk Teil des VEB Textima und seit 1990 im Besitz der Treuhandgesellschaft, war Trützschler interessiert. Die Chemnitzer Spinnereimaschinen GmBH galt als eines der leis-tungsfähigsten Werke im ehemaligen Textima-Kombinat. Im Laufe der Verhandlungen zeigte sich jedoch, dass die Preisvorstellungen weit über den Weltmarktpreisen lagen und es der Geschäftsleitung nicht möglich war, auf Weltmarktniveau und mit entsprechenden Maßga-ben zu kalkulieren. Auch die zwischenzeitlich ebenfalls an der Produktion des Chemnitzer Spinnereimaschinen Unternehmens interessierte amerikanische Firma Hollingsworth zog sich zurück.
Hans Trützschler, der in den gesamtdeutschen Arbeitsausschuss der VDMA berufen worden war, versuchte trotzdem immer wieder, der Treuhand wie auch den Geschäftsleitungen von ehemaligen Textimabetrieben beratend zur Seite zu stehen und die Werke mit der Vergabe von kleineren Aufträgen für Maschinenteile zu unterstützen.
Im Juli 1990 stellte die Familie Trützschler Antrag auf Rückübertragung der Liegenschaften, also der Wohnhäuser und der Firma. 1992 hob das Landgericht Chemnitz das Urteil gegen Bruno, Willy und Karl Trützschler vom 30.5.1949 auf, alle drei wurden rehabilitiert. Den Familien wurden die Vermögenswerte rückerstattet. Auf eine Rückübertragung des Firmen-grundstücks wurde verzichtet, stattdessen eine Entschädigung verlangt.
Im Rahmen einer kurzfristigen Kooperation mit der nunmehrigen Crimafa (Crimmitschauer Maschinenfabrik), die wohl eher als Wiederaufbauhilfe gedacht war, wurde das Jubiläums-geschenk von 1938 – im Jargon der Crimmitschauer Firmenleitung „die Bleiverglasung“ – dem Trützschler- Unternehmen in Mönchengladbach zugesichert und von diesem am 4. De-zember 1990 nach Mönchengladbach abgeholt. Noch immer hoffte der verbliebene Rest der Belegschaft auf eine Übernahme oder Beteiligung von Trützschler. Trützschler vergab tat-sächlich nochmals Aufträge für Fertigung von Kardenteilen an das Werk in Crimmitschau-. Die Ergebnisse waren nicht zufrieden stellend. Zeitweilig waren dies jedoch die einzigen Auf-träge im Jahr 1991. 146 Leute beschäftigte Direktor Bammler, 30 Prozent davon nur zeitweilig, alle befanden sich dauerhaft in Kurzarbeit. 1992 verloren drei Viertel aller im sächsischen Textilmaschinenbau Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Viele wanderten oder pendelten in den Westen, die meisten nach Bayern, aber etliche auch nach NRW, eben auch zu Trützschler nach Mönchengladbach.
Der Spinnereimaschinenbau der ehemaligen Textima fand bis auf eine kleine Handelsvertre-tung in Berlin, die den Namen weiterführte, keinen Nachfolger und verschwand, damit auch über 2500 Arbeitsplätze.
Im Frühsommer 1992 wurde auch die Crimmmitschauer Maschinenfabrik GmbH liquidiert. Eine Gesellschaft für Schraubenverdichter (GVM) übernahm einen Großteil der Produktionsanlagen. 2009 siedelte sich unter anderem ein Unternehmen für Maschinenbau und Instand-setzung auf dem Areal an. Im ehemaligen Stolz der Firma Paul Trützschler & Gey, dem 1938 errichteten Verwaltungsgebäude, war zeitweilig ein Call Center untergebracht.
Der Beitrag basier auf Recherchen, die von der Autorin im Rahmen der Erstellung der Jubiläumschronik des Textilmaschinenunternehmens Trützschler in Mönchengladbach durchgeführt wurden: 125 Jahre Textilmaschinenbau Trützschler, Crimmitschau-Mönchengladbach, 1888-2013, Mönchengladbach 2014. Die Chronik ist nicht über den Buchhandel beziehbar, jedoch in der Deutschen Nationalbibliothek hinterlegt.
Sollten Sie sich für die Anmerkungen interessieren, so schreiben Sie bitte eine Email an Ulrike.Laufer@t-online.de. Vielen Dank.
Eine Fundstelle zu Gefahren der Elektrotechnik (einst)
Gesehen in: Dinglers Polytechnisches Journal Bd. 328, Heft 21, 24. Mai 1913, S. 333:
“Gefahren beim Gebrauch unsachgemäß ausgeführter Haushaltungsapparate:
… Sehr viele dieser Apparate genügen auch nicht den einfachsten Ansprüchen auf gute und dauerhafte Isolation, die hier eigentlich mit Rücksicht darauf, dass solche Apparate vorwiegend in Laienhände gelangen, ganz besonders sicher ausgeführt sein müssten. Der Verfasser schildert einen Fall, bei welchem der Generaldirektor Trippe der Hohenlohewerke A.-G. sein Leben einbüßte. Die Veranlassung gab ein unbemerkt schadhaft gewordener Elektrovibrator, der gelegentlich auch während des Bades benutzt wurde. Als sich der Genannte dabei von seinem Badediener behandeln lassen wollte, wurde bemerkt, dass der Apparat nicht funktionierte. In der Badewanne sitzend, die durch ihre Befestigungsschrauben und den Ablaufstutzen gut geerdet war, erhielt der Badende, als er den Apparat zur Untersuchung in die Hand nahm, den tödlichen Schlag. Die Ursache war, dass die Zuleitung ganz einfach ohne Zugentlastung eingeführt war. Durch das unvermeidliche Zerren am Kabel hatte sich ein Leitungsende gelöst und setzte durch Berührung das metallene Gehäuse unter Spannung. Es handelte sich in diesem Fall zwar schon um 220 Volt Wechseltstrom, doch trug zweifellos die sehr gute Erdung durch den Körper des Badenden die Hauptschuld. Der Badediener hatte von dem Körperschluss nichts gemerkt, was ja auch leicht erklärlich ist, da er gut isoliert auf trockenem Linoleum stand… .”